In Path of Exile: Echos des Atlas haben wir die Seherin eingeführt, ein geheimnisvolles Wesen, das den Altas betreten hat und unserem Leiden zusehen möchte. Einer unserer Narrative Designer, Matt Dymerski, hat eine Zusammenfassung über die Entstehung der Seherin geschrieben und welchen Platz sie in den Überlieferungen hat.




Was kommt nach dem perfekten Lovecraft-Monster? Der Älteste war unerklärlich, unerbittlich und nicht aufzuhalten. Es gab keine Chance zur Kommunikation, zur Besänftigung oder auf eine Übereinkunft. Für ihn waren wir ein Nichts, und die einzige Möglichkeit, Widerstand zu leisten, bestand in der Verwendung arkaner Technologie, die zu bauen die gemeinsame Lebenszeit eines Vater-Tochter Teams gedauert hatte und die das Risiko von Wahnsinn und Vergessenheit mit sich brachte. Selbst damit war der Älteste nicht besiegt, sondern nur eingeschlossen und die fundamentale Kraft, die er repräsentierte, Verfall, war in keinster Weise beeinträchtigt oder vermindert. Es wäre sehr schwer, diese Art einer dunklen und unheilvollen Gefahr zu übertreffen, wenn wir das Gleiche mit einer neuen Bedrohung versuchen würden.

Geschichten über den kosmischen Horror der Hoffnungslosigkeit und der Verzweiflung in einem riesigen, gleichgültigen Universum bieten eine Fülle an Grimdark-Unterhaltung. Der Schlüssel hier ist – und dafür bin ich in meiner Rolle als Narrative Designer eingetreten, dass Path of Exile viele Grimdark-Elemente in seiner Palette hat, aber nicht vollständig in dieses Genre fällt, weil es mit der Gestalt des Spieler-Charakters tatsächlich einen Hoffnungsschimmer gibt. Der Verbannte ist eine Macht-Fantasie. Du bist der Verbannte. Die Erzählung in Path of Exile ist zu gleichen Teilen “Schwert und Magie”, “Magischer Realismus”, “Dark Fantasy” und “Antiheld”. Unser Verbannter geht auf eine epische Reise, gewollt und wiederholt.

Schlussendlich bedeuten diese Unterschiede, dass der Älteste innerhalb des Erfahrungsumfangs von Path of Exile als Schurke übertroffen werden kann. Wir können sogar etwas Besseres als Schurken schaffen: Wir können stattdessen Gegenspieler haben. So war z.B. Dominus ein Schurke, aber Piety war eine Gegenspielerin. Eine dieser Figuren war viel liebenswerter als die andere.

Die Seherin ist unsere erste Begegnung mit dem Ozean des Wahnsinns jenseits von Wraeclast, der in der Vergangenheit Männer wie Venarius so in Schrecken versetzt hat. Da sie eher Gegenspielerin als Schurkin ist, führen die Motivationen der Seherin oft zu einem Konflikt mit uns, aber die gleichen Antriebe können uns auch manchmal auf derselben Seite stehen lassen. Bei jeder Begegnung könnte sie versuchen, unseren Verbannten zu töten – oder uns Macht anbieten, um uns dazu zu bringen das zu tun, was sie will.

Außerdem lernt sie.

Verbleiben wir einen Moment bei dieser Aussage, weil ihre Idee für das Weitere so wichtig ist. Ein Feind wie der Älteste hat etwas seltsam Beruhigendes an sich: Er ist, was er ist. Er bewegt sich auf spezifische Art und Weise. Man kann wahrscheinlich erraten, wie die Geschichte ausgehen wird, denn wenn die Zerstörung der Welt auf dem Spiel steht, dann wird der Antiheld am Ende doch bestimmt gewinnen, nicht wahr? Aber ein Wesen wie die Seherin ist viel komplexer.

Der erste Schritt auf dem Weg, diese Komplexität verständlich zu machen, war, eine Dialogstruktur zu schaffen, die die unfassbar lange Abfolge an Erfahrungen bewältigen kann, die der Atlas darstellt. Der finstere Riese, den wir überwinden mussten, war etwas, das ich liebevoll “Cassias Singerei”-Monster genannt habe. Cassias Lieder sind urkomisch und machen Spaß – die ersten hundert Male. Bei der tausendsten Wiederholung geben wir nur noch ein irres Lachen von uns, wenn Zana fragt, ob wir noch bei Verstand sind. Ich kann immer noch jede einzelne Nuance dieser Lieder in meinem Kopf hören und das, obwohl die Blight-Liga nun schon zehn Jahre her ist (gemessen daran, wie lange sich 2020 angefühlt hat). Angesichts der Tatsache, dass die Seherin zu jeder einzelnen Karte gerufen werden kann, musste ihr Charakter tiefer sein, als jeder andere vorherige Gegner. So wie ihr fortschreitet, so entwickelt sie sich und ihr Dialog und ihre Einstellung ändern sich.



Als Wesen von einem Ort außerhalb unserer Dimension versteht sie bei unserer Ankunft noch nicht unsere Sprache, daher kommuniziert sie mit einfachen Gefühlsausdrücken. Darüber hinaus versteht sie am Anfang auch nicht, wie wir denken. Sie betritt den Atlas als jemand, die nur von den augenblicklichen Gefühlen angetrieben wird und die nur wenig mehr Bewusstsein als der Älteste hat. Oft drückt sie einfach nur aufgeregt ihre Emotionen aus und zeigt uns ihre Gefühle ohne Kontext oder eine Absicht.

Während ihr mehr Zeit mit der Seherin verbringt, beginnt sie, das Konzept eines “Befehls” zu verstehen, da es sich auf ihre Wünsche bezieht. Auf der zweiten Stufe ihrer Dialoge befiehlt sie euch, Dinge zu tun anstatt einfach nur ein simples Gefühl auszudrücken, ohne dass damit eine klare Handlung verknüpft wäre. Sie entwickelt sich von einer aufgeregten Beobachterin der Ereignisse hin zu jemandem, der erkennt, dass sie diese Ereignisse mit ihren Mitteilungen beeinflussen kann. So sagt sie auf der ersten Stufe vielleicht nur “Langeweile…”, weil ihr langweilig ist. Hier fängt sie an zu sagen “Langweilig. Töte.”, weil sie verstanden hat, dass ein Befehl es wahrscheinlicher macht, dass etwas passiert.

Auf der dritten Stufe der Dialoge lässt die Seherin die Bischof-Köhler-Hypothese hinter sich, ein in der echten Welt existierendes Konzept, das postuliert, dass nicht-menschliche Tiere nur von ihren aktuellen Bedürfnissen angetrieben werden. Sie wurde vorher nur durch ihre spontanen Wünsche gelenkt, aber jetzt beginnt sie, ein Bewusstsein für ihre zukünftigen geistigen Zustände auszudrücken. Anstatt nur Befehle für die Dinge zu geben, die sie möchte fängt sie an zu begründen, warum sie will, dass etwas passiert. “Beseitige Langeweile. Töte.” ist ein Beispiel für ihr mitgeteiltes Verständnis, dass sie durch das Vergnügen, einer Tötung beizuwohnen einen mentalen Zustand der Nicht-Langeweile erreichen kann.

Die vierte Stufe der Dialoge könnte einen aufmerksamen Verbannten misstrauisch werden lassen. Nachdem sie genug Zeit mit euch verbracht hat, beginnt die Seherin, das Konzept eines ”Selbsts” zu verstehen. Vorher hat sie nie die Worte “ich”, “meins” oder “mir” verwendet. Mit der Erkenntnis, dass ein “Selbst” existiert, rückt ihre unreife Selbstsucht ins Zentrum. Die gleiche Zeile von weiter oben wird zu “Beende meine Langeweile. Töte für mich.” Sie macht deutlich, dass ihre Befehle, mit denen sie einen zukünftigen mentalen Zustand erreichen will, auf ihr inneres Selbst und ihre Wünsche zurückgehen. Zu keinem Zeitpunkt denkt sie über die persönliche Eigenständigkeit des Verbannten nach.

Auf der fünften Stufe der Dialoge erreicht die Seherin die vollständige Beherrschung der Kommunikation, wenn auch nicht ihrer Gefühle. Ihre Worte sind blumig und genau, aber die Absicht dahinter immer noch selbstsüchtig. Um das Monster namens “Cassias Singerei”’ zu umgehen, haben wir auf dieser Stufe einen riesigen Haufen an zusätzlichen Zeilen aufgenommen, um die Abwechslung zu erhöhen. Da das die Stufe ist, mit der Spieler im Endgame die meiste Zeit verbringen und gleichzeitig auch die letzte, galt: je mehr Dialog, desto besser.

Zum Schluss gibt es eine Begegnung mit der Seherin, in der der Spieler gegen sie selbst kämpfen kann. Bei diesem Kampf geht es nicht um das Schicksal der Welt, weil es in so einem Fall, wie bereits erwähnt, nur eine Richtung für die Geschichte geben könnte. Stattdessen ist es die unvermeidliche Weggabelung am Ende des Entwicklungsbogens der Seherin, an der ihre Selbstsucht und emotionale Unreife sie und den Verbannten in eine direkte, brutale Konfrontation treiben. Aufmerksame Verbannte werden nach ihrem Sieg bemerken, dass die Seherin bestimmte Worte verwendet und bestimmte Emotionen ausdrückt, die sie vorher noch nie hatte. Sie hat dazugelernt. Das lässt viele unheilvolle Fragen für zukünftige Erweiterungen offen, vor allem, wenn wir durch diese Unterhaltung endlich Einblick in das Ausmaß der kosmischen Bedrohung erhalten.

Damit sich diese Begegnungen echter anfühlen, ließ ich die Seherin auf so viele spezielle Situationen wie möglich reagieren, soweit es die Zeit und das Budget es zuließen. Ihre Kommentare basieren auf dem Tun des Verbannten und sind nicht einfach nur mysteriöse Sätze über eine Karte wie die des Schöpfers. Sie hat einzigartige Zeilen für bestimmte besondere Kartenbosse wie Kitava in der Stufe 16 Vaal-Tempel Karte und ebenso für seltene Begegnungen wie mit dem Schöpfer und dem Ältesten. Außerdem hat jeder einzelne Satz mehrere Varianten hinsichtlich Tonlage und Emotionen, von mürrisch über gelangweilt und aufgeregt zu glücklich und oft auch bis zu fordernd. Hoffentlich fühlt sich die Seherin dadurch in der Welt mehr präsent an – als ein kapriziöses Wesen mit einer klaren Persönlichkeit anstatt einer sich wiederholenden Spielmechanik.

Insgesamt hat die Seherin schlussendlich etwa 2000 Zeilen an Text, was die Anzahl der Dialoge in Path of Exile um etwa 25% erhöht hat. Wir mussten neue Tabellen erstellen, nur damit wir ihren immensen Baum an Entscheidungsmöglichkeiten verarbeiten konnten. Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob all das möglich gewesen wäre ohne das unglaubliche Talent von Elisabeth Easther, die Synchronsprecherin der Seherin. Sie hat in Rekordzeit jede Zeile mit verschiedenen fantastischen Variationen aufgenommen. Trotzdem haben wir die tatsächliche Länge des Skripts unterschätzt und brauchten eine zweite Sitzung, um alles fertigzustellen. Zusätzlich haben Nick Kolans Anweisungen im Studio sehr dazu beigetragen, die Persönlichkeit der Seherin herauszuarbeiten.

Da das unser erster Endgame-Boss war, dessen Charakter und Entwicklung ich alleine erschaffen durfte – und weil ich dies drei Tage vor dem Start der Erweiterung schreibe – wird es interessant sein zu sehen, was die Spieler von dieser Art von Persönlichkeit und der Handlung halten. Wenn es gut ankommt, dann ist dieser anspruchsvolle Umfang für einen Gegenspieler definitiv etwas, das ich hoffentlich in zukünftigen Erweiterungen fortsetzen kann. Ich bin mir durchaus bewusst, welche Unterschiede es zwischen den ursprünglichen Absichten für Sirus gab und dem, was es im Endeffekt nach Änderungen an der Mechanik ins Spiel geschafft hat – darüber könnte man auch einen ganzen Artikel schreiben – aber hier hat der Entwicklungsbogen der Seherin überlebt und wurde vollständig so wie beabsichtigt ins Spiel integriert, dank unser neuen Verfahren für den Umfang eines Vorhabens und verbesserter Abläufe… Es sei denn, ihr hasst sie, dann müsst ihr mir einfach glauben, dass es eine Unmenge an total großartigen Teilen gab, die euch definitiv gefallen hätten und die einfach rausgeschnitten wurden. Wartet einfach auf den Director’s Cut!
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am
Grinding Gear Games

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